Stärkster Rückgang des Lebensstandards seit 70 Jahren prognostiziert

Das verfügbare Haushaltseinkommen pro Kopf soll laut einer unabhängigen Schätzung so stark schrumpfen wie seit 1957 nicht mehr. Finanzminister Hunt kündigt indes ein Hilfspaket für die Bevölkerung an.

Trotz etwas besserer Aussichten für die Wirtschaft als zunächst erwartet sind die Menschen in Großbritannien wohl mit dem größten Rückgang ihres Lebensstandards seit beinahe 70 Jahren konfrontiert. Das geht aus einer Schätzung der unabhängigen Haushaltsbehörde OBR (Office for Budget Responsibility) von Mittwoch hervor. Demnach kann Großbritannien einer Rezession zwar entgehen, doch das verfügbare Haushaltseinkommen pro Kopf dürfte in einem Zweijahreszeitraum bis Ende März 2024 um 5,7 Prozent schrumpfen – so stark wie seit 1957 nicht mehr.

Das, obwohl auch die Inflation in Großbritannien für dieses Jahr nicht mehr ganz so hoch erwartet wird wie noch bei der vergangenen Schätzung. Demnach dürfte die 2022 bis auf 11,1 Prozent gekletterte Teuerungsrate rascher sinken als bisher angenommen und am Ende des laufenden Jahres 2,9 Prozent betragen.

Begleitet von großflächigen Streiks in zahlreichen Branchen hatte der britische Finanzminister Jeremy Hunt am Mittwoch im Parlament in London den Haushaltsplan vorgestellt. Angesichts der hohen Lebenshaltungskosten und der stark gestiegenen Inflation sieht der Plan ein Hilfspaket für die Bevölkerung vor. Im Hinblick auf die Streiks sagte Hunt: „Wir werden weiter hart daran arbeiten, diese Dispute zu beseitigen, aber nur in einer Art und Weise, die nicht die Inflation weiter vorantreibt.“

Das Hilfspaket soll in diesem und im kommenden Jahr 94 Milliarden Pfund (107,7 Milliarden Euro) umfassen. Konkret sollen unter anderem Strom- und Gasrechnungen für weitere drei Monate bezuschusst und die staatliche Finanzierung von Kinderbetreuung aufgestockt werden. „Angesichts einer Krise der Lebenshaltungskosten (…) haben wir unsere Werte durch den Schutz von in Schwierigkeiten geratenen Familien bewiesen“, sagte Hunt.

Gleichzeitig streikten am Mittwoch hunderttausende Lehrkräfte, junge Ärzte, Journalisten der BBC, Beamte und Fahrer der Londoner U-Bahn. In der Nähe des Amtssitz von Premierminister Rishi Sunak skandierten hunderte Beamtinnen und Beamte am größten Aktionstag seit Beginn der Streikwelle im vergangenen Jahr Sprechchöre wie: „Was wollen wir? Zehn Prozent, wann wollen wir das? Jetzt!“ Gewerkschaftssekretär Mark Serwotka sagte der Nachrichtenagentur AFP, es sei ein Skandal, dass manche Beschäftigte im öffentlichen Dienst so schlecht bezahlt würden, dass sie nun selbst auf staatliche Unterstützung angewiesen seien.

Auch Entlastung für die Pubs

Neben dem Hilfspaket zur Senkung der Energiekosten für Verbraucher kündigte Hunt eine Entlastung bei der Kinderbetreuung an, die dabei helfen soll, Eltern kleiner Kinder zurück auf den Arbeitsmarkt zu bringen: Die meisten arbeitenden Eltern in England mit Nachwuchs im Alter zwischen neun Monaten und fünf Jahren bekommen durch Hunts Haushaltsplan einen Anspruch auf 30 Stunden kostenlose Kinderbetreuung pro Woche. Die Regelung soll für 38 Wochen pro Jahr gelten und in Etappen in Kraft gesetzt werden.

Auch den gebeutelten Pubs will die Regierung unter die Arme zu greifen. Dafür sollen die Abgaben für Fassbier eingefroren werden. „Vom 1. August an werden die Steuern auf gezapfte Produkte in Kneipen um bis zu 11 Pence niedriger sein als die Steuern in Supermärkten“, sagte Hunt am Mittwoch im Parlament. „Britisches Ale mag zwar warm sein, aber die Steuern auf ein Pint sind eingefroren“, sagte Hunt.

Brexit hat die Branche getroffen

Die Steuern auf alle anderen alkoholischen Getränke werden aber wie bisher geplant im Einklang mit der Inflation um 10,1 Prozent steigen. Auch deshalb reagierte die Branche skeptisch. Die Chefin des Verbands British Beer and Pub Association, Emma McClarkin, sprach von einem Schritt in die richtige Richtung. Zwar könnten Pubs nun auf einen Schub im Sommer hoffen. Allerdings gleiche die Maßnahme keinesfalls die „katastrophalen Auswirkungen von steigender Inflation und unfairen Energieverträgen“ auf Pubs und Brauereien aus, sagte sie.

Hunt sprach von einer „Brexit-Pub-Garantie“. Der britische EU-Austritt habe eine solche Hilfsmaßnahme erst möglich gemacht, sagte er. Kommentatoren wiesen aber darauf hin, dass der Brexit die Branche enorm getroffen hat, etwa weil günstigere Arbeitskräfte aus der EU wegen schärferer Einwanderungsregeln nicht mehr beschäftigt werden können.

In Großbritannien sinkt die Zahl der Kneipen seit Jahren deutlich. Gründe sind unter anderem die hohe Biersteuer sowie das Rauchverbot, verändertes Trinkverhalten und günstiger Alkohol im Supermarkt. Die Corona-Pandemie hat die Probleme noch verschärft. Die explodierten Energiepreise haben den Pub-Besitzern zusätzlich zugesetzt.