Noch nie von Bielefeld gehört? Damit sind Sie nicht allein. Ein Journalist der New York Times hat die ostwestfälische Stadt besucht – einst Ziel nationaler Spottkampagnen, nun aber im Wandel.
Als Reporter für Nachrufe bei der New York Times schreibe ich über Menschen, die – ob prominent oder nicht – Spuren in der Geschichte hinterlassen haben. Ich spreche außerdem fließend Deutsch, was mich im Mai für einen Monat nach Berlin führte, um dort eine Kollegin zu vertreten.
Vor meiner Abreise verbesserte ich meine Sprachkenntnisse mit einer Tutorin. Ich fragte sie nach spannenden Themenideen. Ihre Antwort: „Kennen Sie Bielefeld? Alle sagen, die Stadt gibt’s gar nicht.“
Rund 300.000 Menschen leben in Bielefeld – und doch wusste ich selbst kaum etwas darüber.
Für viele Deutsche ist Bielefeld so etwas wie Scranton oder Cedar Rapids in den USA: Städte, über die sich schwerlich etwas Schlechtes sagen lässt, aber auch kaum etwas Aufregendes. Und genau wie Scranton durch die Serie The Office Bekanntheit erlangte, wurde Bielefeld zum Zentrum eines langjährigen Witzes.
Dieser begann – wie viele Skurrilitäten heute – im Internet. Bereits 1993 kursierte die absurde Verschwörungstheorie, dass Bielefeld gar nicht existiere und alle, die anderes behaupten, Teil eines geheimen Plans seien.
Mit der Zeit wurde der Ort zum Synonym für Langeweile. Es entstanden sogar Lieder über die angebliche Bedeutungslosigkeit der Stadt – darunter eines, gesungen von einer sprechenden Brotscheibe namens Bernd. Willkommen in Deutschland.
Bevor sich nun Fans aus Scranton oder Cedar Rapids bei mir melden: Auch ich empfand den Bielefeld-Witz als etwas bemüht. Ich komme selbst aus einer Stadt, die einst als „flyover country“ galt – dem Nashville der 1980er Jahre, lange vor dem heutigen Glanz der Countrymusik und Junggesellinnenpartys.
Jede Stadt hat ihre Geschichte. Also beschloss ich, die von Bielefeld zu erzählen.
Ein glücklicher Zufall: Bielefeld erlebte gerade einen echten Aufschwung. Der Fußballverein Arminia spielte eine starke Saison, gewann die Meisterschaft in der dritten Liga und schaffte es bis ins Finale des DFB-Pokals – ein beachtlicher Erfolg.
Im Finale unterlag Arminia zwar dem Favoriten aus Stuttgart klar. Doch in den Wochen zuvor hatte sich das Team in die Herzen der Nation gespielt. Für mich war es der perfekte Zeitpunkt, die Stadt selbst zu erkunden.
Von Berlin aus fuhr ich mit dem Zug und erwartete ein Stadtzentrum voller Filialen großer Ketten – wie so oft in mittelgroßen deutschen Städten.
Doch Bielefeld überraschte mich: Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäuser, eine imposante spätgotische Kirche – ein Bilderbuch-Städtchen. Dazu gesellten sich edle Boutiquen, gemütliche Cafés und ein Luxusuhren-Geschäft – fast wie in einem wohlhabenden US-Vorort.
Natürlich machen Schaufenster mit Rolex-Uhren noch keine interessante Stadt – und keine gesunde Gesellschaft.
Später traf ich Bürgermeister Pit Clausen, seit 16 Jahren im Amt. Ein bodenständiger, zugewandter Mann, der mir Kaffee anbot, während sein Labrador-Mischling Scotty neugierig an meiner Hand schnüffelte.
Clausen wirkte auf mich wie der Prototyp eines engagierten, pragmatischen Stadtoberhaupts. Stolz auf seine Stadt, aber ohne Überheblichkeit. Es gäbe vieles, worüber er hätte prahlen können: eine angesehene Universität etwa oder traditionsreiche Familienunternehmen, die ein Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden.
Doch am meisten sprach er über die Bethel-Stiftung – ein weit verzweigter Komplex aus Kliniken, Reha-Einrichtungen und betreutem Wohnen für Menschen mit Behinderungen. Viele der Bewohner arbeiten in der Stadt – manche sind leidenschaftliche Fans von Arminia Bielefeld.
„Diese Inklusion, das Annehmen der Menschen, wie sie sind – das spüren wir tief im Herzen unserer Stadtgesellschaft“, sagte Clausen.
Dieses Gefühl der Zugehörigkeit wurde mir auch von vielen anderen Bielefeldern vermittelt – sogar vom Kapitän der Fußballmannschaft, Mael Corboz, gebürtig aus Alabama.
Er war erst letztes Jahr zu einem Team gestoßen, das am Tiefpunkt stand. Doch statt die Mannschaft radikal umzubauen, entschied sich die Vereinsführung dafür, auf das bestehende Team zu setzen.
„Wir haben es richtig gemacht“, sagte er am Spielfeldrand des Stadions. „Es war nicht so: Dieses Team hat’s nicht geschafft, also weg damit. Sondern: Da steckt noch Potenzial drin. Daran arbeiten wir.“
In Bielefeld habe ich nicht nur eine reale Stadt gefunden, sondern auch eine Gemeinschaft mit Herz und Haltung – weit entfernt von einem bloßen Internetwitz.
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